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Soziale Unterstützung und ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

„Menschen beginnen in dem Moment zu heilen, in dem sie sich gesehen fühlen.“


Es gibt so Sätze, die lassen mein Gehirn rattern und mein Kopf lässt sie nicht los. So auch dieser Satz….“sich gesehen fühlen“…. Was heißt das überhaupt? Und will ich das wirklich? Und wenn ja, wie kann ich das erreichen? Und reicht „sich gesehen fühlen“ für Heilung aus? Was ist überhaupt Heilung? Puh, Fragen über Fragen.



Was heißt das „sich gesehen fühlen“?


Wenn ich mich „gesehen fühle“, dann sitzt mir eine Person 👩🏽‍🤝‍👩🏻 gegenüber, die mir zuhört (siehe auch Blogartikel „Zuhören, einfach nur zuhören“). Die durch Mimik und Gestik signalisiert, dass sie meinen Ausführungen folgt. Die Nachfragen stellt, woran ich erkenne, dass diese Person mich verstehen will und dass sie an mir und meinem Leben interessiert ist. Diese Person hat eine wohlwollende und wertschätzende Haltung mir gegenüber. Sie gibt mir das Gefühl, richtig und wichtig zu sein. Sie lässt mir Raum, mich auszudrücken und zu entfalten und möchte in irgendeiner Art und Weise an meinem Leben teilhaben. Sie ist mit all ihrer Konzentration und Aufmerksamkeit bei mir. Diese Person wechselt nicht das Thema, erzählt nicht plötzlich von sich selbst oder gibt unaufgeforderte Ratschläge. Sie versucht sich, in meine Lage zu versetzen und gleicht dies ab, indem sie nachhakt, wie ich mich genau fühle und was ich denke.


Und wahrlich, es fühlt sich großartig an, wenn man sich von einer anderen Person voll und ganz gesehen fühlt ☺. Doch neben diesem sehr warmen, angenehmen Gefühl existieren noch Gefühle der unangenehmen Art, die ausgelöst werden können, wenn man „sich gesehen fühlt“. Mehr dazu im Abschnitt „Will ich wirklich gesehen werden?“.



„Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, dass ich von jemanden empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn diese geschieht, entsteht Kontakt.“

Zitat von Virginia Satir, Begründerin der systemischen Therapie



Gehen wir ein bisschen wissenschaftlicher vor, so bedeutet „gesehen werden“ soziale Unterstützung leisten. Soziale Unterstützung beinhaltet unterschiedliche Facetten:


  • Die Unterstützung, bei der jemand einen Hilfesuchenden einen Ratschlag oder notwendige Informationen gibt

  • Die tatkräftige Unterstützung, bei der jemand mit seinen Händen 🖐 mit anpackt

  • Die emotionale Unterstützung, bei der jemand Trost und Mitgefühl spendet.


Ich verstehe das „gesehen werden“ aus dem Zitat als eine emotionale Unterstützung: Eine Person sieht mein Leid, erkennt meine Gefühle, hört mir zu, spendet aufbauende Worte, wertschätzt und akzeptiert mich.


Weiterhin legt die Forschung nahe, sich nicht nur die tatsächlich erhaltene Unterstützung als Maß für psychisches Wohlbefinden anzuschauen, sondern auch die empfundene soziale Unterstützung, also ob jemand überhaupt wahrnimmt, dass er sozial unterstützt wird und dies als hilfreich empfindet. So konnte gezeigt werden, dass allein das Wissen, das man soziale Unterstützung erhalten würde, Stresssymptome verringert, auch wenn der Betroffene gar keine Hilfe in Anspruch genommen hat. (Turner & Marino, 1994).



Will ich wirklich gesehen werden?


„Sich gesehen fühlen“ ist kein Gefühl, spricht die Psychotherapeutin in mir. Welchen anderen Namen können wir diesem Gefühl geben? Geborgenheit 🥰? Sicherheit? Stolz? Glücklich sein? Verbundenheit? Hast du noch andere Vorschläge?


Doch es kommt auch vor, dass sich unangenehme Gefühle einstellen, wenn wir uns von jemanden „gesehen fühlen“: Angst 😱, Scham, Unsicherheit. Es könnte sich bedrohlich anfühlen, bei dem Gedanken, der andere entdeckt Seiten an uns, die wir als unvorteilhaft finden. Möglicherweise wird diese Person diese Eigenschaften an uns abstoßend finden und könnte uns ablehnen, den Kontakt zu uns abbrechen. Vielleicht schämen wir uns auch für etwas an uns, so dass wir dies unbedingt vor anderen verbergen möchten. Vielleicht macht es uns auch unsicher, zu wissen, dass andere uns bestens kennen, weil wir nicht einschätzen können, ob sie mit ihrem Wissen über uns vertrauensvoll umgehen werden. Vielleicht macht es uns auch nervös, so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer anderen Person zu stehen, weil wir das nicht gewohnt sind. Sonst standen wir eher am Rand und wurden wenig beachtet. Jetzt wirft da jemand die grellen Scheinwerfer 🔦 seiner Zuwendung auf uns und diese neue Erfahrung löst Unwohlsein aus, irritiert und verwirrt uns.


Gesehen werden bedeutet eben auch häufig, beurteilt zu werden. Stehen wir im Fokus der anderen, so müssen wir damit rechnen, bewertet zu werden. Dabei urteilen wir Menschen nicht aus Böswilligkeit, sondern weil es in uns instinktiv und evolutionär angelegt ist: Personen, die in der Lage waren, Situationen in gut oder böse, gefährlich oder ungefährlich einordnen zu können, deren Überleben war wahrscheinlicher. Unser Gehirn ist dafür gemacht, Gefahren in Sekundenschnelle zu erkennen und mögliche Maßnahmen zum Schutz einzuleiten. Dieses Relikt ist uns erhalten geblieben, auch wenn wir die schnelle Beurteilung in gefährlich oder ungefährlich gar nicht mehr so oft benötigen.


So bewertet unser Gehirn automatisch und ohne dies in Frage zu stellen, weiter. Und dies tut es eben auch mit anderen Menschen. All diese Vorgänge sind uns zwar nicht bewusst, aber trotzdem wissen wir auf einer unbewussten Ebene von ihnen und sind somit auf der Hut vor den Bewertungen der Anderen. Damit kann „das gesehen werden“ auch gefährlich werden und wir versuchen, es zu vermeiden.


Wie kann ich erreichen, „gesehen“ zu werden?


Häufig wird von den Personen um uns herum erwartet, dass die schon wissen müssten, was wir wollen und was wir nicht wollen. Dies wird dann mit Sätzen wie „Das macht man so.“ oder „Das gehört sich so.“ begründet. Wenn jemand so argumentiert, dann ist er der Überzeugung, dass seine eigenen Werte auch für alle anderen Personen gelten. Er glaubt, wenn er Pünktlichkeit ⏲ als sehr wichtig erachtet, müssten das alle anderen auch so empfinden und sich nach diesem Wert richten.


Auch kommt es häufig vor, dass geglaubt wird, dass unsere Mitmenschen unsere Bedürfnisse kennen und erfüllen müssen. Hier liegen gleich zwei Irrtümer vor: Andere Menschen kennen unsere Bedürfnisse nicht! Und selbst, wenn sie diese kennen würden, sind sie nicht dazu verpflichtet, uns diese zu erfüllen.


Wir Menschen sind so unterschiedlich, dass wir IMMER davon ausgehen können, dass unser Gegenüber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit andere Bedürfnisse als ich selbst hat und auch nach anderen Werten lebt, als ich. Da Bedürfnisse und Werte unser Verhalten steuern, werden wir immer wieder in unserem Leben mit Menschen zusammentreffen, die sich aus unseren Augen „falsch“ verhalten. In meinem Blogartikel „Die psychologischen Grundbedürfnisse“ gehe ich sehr intensiv auf dieses Thema ein.


Was hat das nun mit dem „gesehen“ werden zu tun? Nun ja, bevor ich von anderen gesehen werden kann, muss ich mich selbst erst einmal sehen 👀. Kennst du deine Bedürfnisse und deine Werte? Hast du schon einmal überprüft, warum du dich so verhältst, wie du es tust? Wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse und Werte nicht kennen, wie können wir dann von jemanden anderen erwarten, dass er sie kennt?


Der einfachste Weg, gesehen zu werden, ist, sich „zu zeigen“. Sich mit seinen Bedürfnissen und Werten, seinen Gedanken und Gefühlen der Außenwelt präsentieren. Dafür ist es notwendig, dass wir selbst darüber Bescheid wissen und diese in unserer Kommunikation ausdrücken.


Na klar, laufen wir dann wieder Gefahr, dass uns jemand damit verletzen könnte. Oder uns Ablehnung entgegenbringt oder Unverständnis. Doch es besteht auch die Chance, dass wir uns jemanden zeigen, der behutsam und wohlwollend mit uns und diesen Informationen umgeht.


Und da komme ich gleich zum nächsten Punkt, wie wir erreichen können, dass wir gesehen werden: Wir sollten ANDEREN das Gefühl geben, gesehen zu werden. Nehmen wir mal an, dass dieses „gesehen werden“ Heilung bringt, dann können wir dazu beitragen, dass ein Mensch heilt, wenn wir ihn vollständig sehen. Wenn ein Mensch heil ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er seine Erfahrung, gesehen zu werden, an andere Menschen weitergeben möchte, als Akt der Dankbarkeit 🙏 sozusagen. Der neue heile Mensch widmet also seine Aufmerksamkeit einem anderen Menschen, welcher heilen kann. Dieser wiederrum wird vielleicht auch jemanden etwas Gutes tun wollen und schenkt ihm seine Zeit und seine Wertschätzung. Eine Welle 🌊 entsteht. Und irgendwann begegnen wir einem Menschen, der uns sieht. Der uns das Gefühl gibt, gesehen zu werden.



Was ist überhaupt Heilung?


Heilung bedeutet für die meisten Menschen, von einer Krankheit gesund zu werden. Dabei ist der Begriff Krankheit und Gesundheit mittlerweile nicht mehr als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen, sondern als Kontinuum: Es gibt sowohl Abstufungen der Gesundheit als auch der Krankheit. Was als „mehr“ krank oder als „mehr“ gesund gilt, ist individuell sehr verschieden und auch die Übergänge zwischen Krankheit und Gesundheit sind fließen.


Natürlich gibt es Klassifikationssysteme, in welchen genau beschrieben wird, mit welchen Kriterien der Mensch an welcher Krankheit leidet.


Doch „Kranksein“ 😷 ist sehr subjektiv: Einer empfindet sich mit einer Erkältung als so krank, dass er im Bett bleiben möchte. Ein anderer geht erkältet weiterhin seiner Arbeit nach.


Wenn wir Krankheit und Gesundheit als Zustände mit individuellem Interpretationsspielraum ansehen, dann können wir auch nicht genau definieren, was „Heilung“ ist.



Bringt das Gefühl des „gesehen werden“ Heilung?


Ja auch, aber nicht nur. Neben der Art der tatsächlich geleisteten Unterstützung (Ratschlag, handfeste Hilfe oder Trost) hängt es auch davon ab, ob der Empfangende die soziale Unterstützung überhaupt wahrnimmt und ob er sie als angemessen empfindet. Hierbei spielen die Fragen eine Rolle:


- Wird mein Leid überhaupt gesehen?

- Wird meinem Leid mit der angemessenen Hilfe begegnet?

- Sehe als Leidender die Hilfe?

- Kann ich die Hilfe annehmen?

- Finde ich die Art der Hilfe hilfreich?


Ihr seht schon, ganz so einfach wie im Zitat dargestellt, ist es nicht mit dem „gesehen werden“. 🥴


Doch schauen wir uns ein paar Studien über den Zusammenhang von sozialer Zuwendung und Gesundheit an:


Im psychotherapeutischen Kontext könnte man das „gesehen werden“ mit der psychotherapeutischen Beziehung gleichsetzen. Hierbei sollte der Psychotherapeut dafür Sorge tragen, dass der Patient Vertrauen fasst, sich öffnet und sich zeigt. Dafür ist es notwendig, dass der Psychotherapeut Verständnis zeigt, wohlwollend und wertschätzend mit der Offenheit und den Informationen des Patienten umgeht, den Patienten quasi „sieht“. In unterschiedlichen Studien konnte gezeigt werden, dass die Qualität der psychotherapeutischen Beziehung der Hauptwirkfaktor einer erfolgreichen Psychotherapie ist. War die psychotherapeutische Beziehung nicht ausreichend gut, konnte keine therapeutische Methode einen nachhaltigen Therapieerfolg erbringen.


Fühlen wir uns „nicht gesehen“, löst dies regelrechte Schmerzen 🤕 aus (Kross et. al.). Dies konnte in einer neurologischen Studie mittels bildgebenden Verfahrens gezeigt werden. Dabei wurden die gleichen Hirnareale bei sozialer Distanz aktiviert, welche auch bei Schmerzen aktiv sind. Und mal wieder macht das evolutionär betrachtet Sinn: Sozialer Ausschluss bedeutete für unsere steinzeitliche Vorfahren mit einer hohen Wahrscheinlichkeit den Tod, denn alleine als Jäger und Sammler war ein Überleben kaum möglich.


Und noch ein paar weitere wissenschaftliche Erkenntnisse:

  • Verheiratete sind im Durchschnitt gesünder als Ledige, Verwitwete und Geschiedene (Ikeda et. al. 2007; Joung, 1997; Verbrugge, 1979)

  • Die Erholung von einer Operation geht schneller von statten, wenn sich die Patienten von ihren Partnern sozial unterstützt fühlen. (Schröder, Schwarzer & Endler, 1997)

  • Bypass-Patienten können die Intensivstation früher verlassen, wenn sie häufig von ihren Partnerinnen besucht werden (Kulik & Mahler, 1989)

  • Soziale Unterstützung wirkt sich positiv auf die psychische Gesundheit aus (Harandi, Taghinasab, & Nayeri, 2017)



Zusammenfassung


Halten wir noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse fest:


  • Soziale Unterstützung schützt unsere physische und psychische Gesundheit.

  • Sich gesehen fühlen fühlt sich toll an. Kann aber auch zu unangenehmen Gefühlen führen.

  • Schon allein das Wissen, soziale Unterstützung zu bekommen, wenn man sie bräuchte, reicht aus, Stresssymptome zu lindern. Das heißt, wenn es dir mal nicht so gut geht oder du mit einem Problem konfrontiert bist, dann schreibe dir auf, welche Personen dir helfen könnten. Nur das Gefühl, Hilfe bekommen zu können, reicht schon aus, um sich besser zu fühlen.


Mein persönliches Anliegen, mit dem ich auch meine Arbeit ausfülle, ist:

Wenn wir uns eine andere Gesellschaft wünschen, dann sollten wir selbst diejenigen sein, die diese andere Gesellschaft hervorbringt. Wenn wir uns mehr soziale Unterstützung wünschen, dann sollten wir damit beginnen, andere zu unterstützen.


Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit und deine Zeit, die du mir mit deinem Lesen geschenkt hast. Wenn du magst, teile diesen Blogartikel sehr gerne mit deinen Freunden. Auch ein Kommentar mit deiner Meinung und deinen Erfahrungen interessiert mich sehr. Und wenn du mir persönlich schreiben möchtest, dann nutze das Kontaktformular.


Herzliche Grüße

Wenke Kroschinsky

Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie



Quellen:

Harandi TF, Taghinasab MM, Nayeri TD. The correlation of social support with mental health: A meta-analysis. Electron Physician. 2017 Sep 25;9(9):5212-5222. doi: 10.19082/5212. PMID: 29038699; PMCID: PMC5633215.


Ikeda A, Iso H, Toyoshima H, Fujino Y, Mizoue T, Yoshimura T, Inaba Y, Tamakoshi A; JACC Study Group. Marital status and mortality among Japanese men and women: the Japan Collaborative Cohort Study. BMC Public Health. 2007 May 7;7:73. doi: 10.1186/1471-2458-7-73. PMID: 17484786; PMCID: PMC1871578.


Joung IM. De relatie tussen burgerlijke staat en gezondheid [The relationship between marital status and health]. Ned Tijdschr Geneeskd. 1997 Feb 8;141(6):277-82. Dutch. PMID: 9148162.


Kross E et al.: Social rejection shares somatosensory representations with physical pain. PNAS 2011; 108 (15): 6270–5. (https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.1102693108

Stand 21.11.2022)


Kulik, J. A., & Mahler, H. I. (1989). Social support and recovery from surgery. Health Psychology, 8(2), 221–238. https://doi.org/10.1037/0278-6133.8.2.221


Schröder KE, Schwarzer R, Endler NS. Predicting cardiac patients' quality of life from the characteristics of their spouses. J Health Psychol. 1997 Apr;2(2):231-44. doi: 10.1177/135910539700200219. PMID: 22013006.


Turner, R. J., & Marino, F. (1994). Social support and social structure: A descriptive epidemiology. Journal of Health and Social Behavior, 35(3), 193–212. https://doi.org/10.2307/2137276


Verbrugge, L. M. (1979). Marital status and health. Journal of Marriage and the Family, 41(2), 267–285. https://doi.org/10.2307/351696




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